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Was verbindet die Gebärdensprachgemeinschaft und Barrierefreiheit?

Projektart
Publikation
Datum
18.02.2019

Da ich persönlich von dem oben Genannten betroffen bin, möchte ich meine eigenen Erfahrungen aus der Perspektive als taube Person in der Gebärdensprachgemeinschaft erzählen.

In Deutschland leben nach Aussage des Deutschen Gehörlosen-Bundes e.V.(DGB e.V.) ca. 80.000 Taube. Nach Angaben des Deutschen Schwerhörigenbundes gibt es ca. 16 Millionen Schwerhörige. Ungefähr 140.000 davon sind einen Grad der Behinderung von mehr als 70% anerkannt. Sie haben in vielen Lebensbereichen einen gesetzlichen Anspruch z.B. auf den Einsatz von Gebärdensprachdolmetscher_innen. Bei Gesprächen mit Hörenden nutzen taube Menschen diesen, um alle Gesprächspartner ohne Barrieren miteinander kommunizieren zu lassen.

Dass wir in der Gebärdensprachgemeinschaft tagtäglich Barrieren ausgesetzt sind, ist vielen nicht bewusst. Viele Teile der Gesellschaft nehmen uns nach wie vor als Menschen mit Behinderung wahr, nicht aber im Sinne der Un-Behindertenkonvention, die davon ausgeht, dass Menschen durch ihre Umwelt behindert werden.

Oft basiert diese, in meinen Augen veraltete Sichtweise auf Unwissenheit und mangelnder Aufklärung über die tatsächlichen Situationen der Menschen mit Behinderung.

Nehmen wir die Gebärdensprachegemeinschaft als Beispiel. Vielen hörenden Menschen ist nicht bekannt, dass wir eine eigene Kultur und Sprache, die Deutschen Gebärdensprache (DGS), haben. Wir sehen ganz genauso wie hörenden Menschen, nur ist die Fähigkeit „Hören“ beeinträchtigt. Wir „hören“ mit den Augen, in dem wir alles um uns herum bis in kleinste Details visuell wahrnehmen. Diese komplexe Wahrnehmung und Verarbeitung möchte ich in seiner Form als visuelles Denken bezeichnen.

Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist unsere Muttersprache. Sie ist durch das Bundesgleichstellungsgesetz (BGG) seit 2002 als eine eigenständige, vollwertige Sprache in Deutschland anerkannt. An dieser Stelle sei ein kleiner Hinweis erlaubt: Gebärdensprachen sind nicht international gleich. Sie sind wie alle natürlichen Sprachen - also auch wie alle gesprochenen Sprachen - lokal entstanden und daher auf der Welt verschieden.

Deutsch – und damit ist sowohl die Deutsche Lautsprache als auch die Deutsche Schriftsprache gemeint – ist für taube Menschen eine Fremdsprache. Denn, wie bereits erwähnt, ist unsere Muttersprache die Deutsche Gebärdensprache (DGS), eine dreidimensionale, visuell-räumliche Sprache und unterscheidet sich in großen Teilen u.a. auch in ihrer Grammatik vom Deutschen.

Hier lässt es sich vielleicht erahnen warum Gehörlose nicht nur Schwierigkeiten haben in Deutscher Lautsprache zu kommunizieren, sondern auch in der Deutschen Schriftsprache. Wie es häufig bei allen Fremdsprachen der Fall ist, führt diese Art der Kommunikation oft zu Missverständnissen. Für taube Menschen ist es daher sehr mühsam in dieser für sie fremden Sprache schriftlich zu kommunizieren. Und kein Wunder: auch diesen Text ließ ich korrigieren.

In der Wahl der Kommunikationsmittel sind taube Menschen sehr individuell. Manche bevorzugen es in Laut- und Schriftsprache, andere wieder nur in deutscher Gebärdensprache zu kommunizieren. Die Präferenzen liegen dabei oft in einer unterschiedlichen Sozialisierung begründet. Anspruch auf die Verwendung der Deutschen Gebärdensprache haben jedoch alle tauben Personen.

Diesem Anspruch kann die Gesellschaft aber leider nicht immer gerecht werden. Begründet liegt es in der Tatsache, dass zur reibungslosen,zwischenmenschlichen Kommunikation Dolmetscher eingesetzt werden müssen.

Deutschlandweit gibt es nach wie vor einen Mangel an Gebärdensprachdolmetschenden. Um dies zu illustrieren, habe ich ein Beispiel aus Berlin, der Stadt in der ich lebe, ausgewählt. Selbst in einer sehr gut vernetzten Stadt wie Berlin gibt nicht genügend Dolmetscher. Laut einer Statistik des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg, Stand: 31.12.2017, gibt es in Berlin/Brandenburg 12 558 Hörbehinderte. Denen gegenüber stehen lediglich ca. 82 qualifizierte Dolmetscher in Berlin/Brandenburg des Berufsverbands der Gebärdensprachdolmetscher/-innen Berlin/Brandenburg (BGBB) e.V. zur Verfügung. Da die Berufsbezeichnung „Gebärdensprachdolmetscher/-in“ nicht gesetzlich geschützt ist und nicht alle Dolmetscher und Dolmetscherinnen in einem Berufsverband organisiert sind, gibt es wahrscheinlich noch mehr Dolmetschende in der Stadt. Uber deren Anzahl lassen sich aber keine qualifizierten Aussagen treffen. Seit Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache 2002 ist zu beobachten, dass mit steigenden Bewusstsein für den Anspruch auf Verwendung der DGS bei tauben Menschen, der Bedarf nach Gebärdensprachdolmetscher ebenso steigt. Nach Aussage des BGBB e.V. ist die Mitgliederzahl an qualifizierten Gebärdensprachdolmetschenden ebenfalls stetig am steigen. Dieser Zuwachs kann jedoch die ebenfalls parallel steigende Nachfrage kaum abdecken. Die Folge daraus ist, dass wir tauben Menschen weiterhin öfter behindert werden, weil die Verfügbarkeit an Gebärdensprachedolmetscher immer noch gering ist. Die Dolmetscher/-innen sind aufgrund der oben dieser großen Differenz zwischen Angebot und Nachfrage oft ausgebucht. Ein weiter Aspekt aus meiner persönlichen Erfahrung kommt hinzu: Die von den zuständigen Leistungsträgern zu über nehmenden Kosten werden häufig verweigert, da es zu teuer würde bzw. die Zuständigkeit für die Kostenübernahme werden zwischen den Akteuren hin und her geschoben, so dass sich am Ende gefühlt keiner mehr als zuständig sieht.

Statistik in Berlin, Stand: 31.12.2017

Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit

  weiblich männlich Gesamt
Sprachstörungen 97 157 254
Taubheit 704 586 1.290
Taubheit mit Störungen 710 726 1.436
Schwerhörigkeit 4 839 3721 8.560

|Ingesamt | 6.350 | 5.208 | 11.558 |

Alltäglich kommunizieren wir in Gebärdensprache und ganz selbstverständlich sind wir im alltäglichen auch auf Lautsprache anwiesen. Gebärdensprachdolmetscher sind dabei neu ein Hilfsmittel von vielen, die es ermöglichen Barrieren abzubauen. Ich bin überzeugt, so vielfältig die Barrieren sind, so vielfältig sind auch die Hilfsmittel diese zu überwinden. Ein Beispiel sei hier angeführt: Kommunikations- oder Informationstechnologie unter Verwendung akustischer Signale für den Gefahrenfall. Oftmals fehlen ebenso visuelle Signale, die im Falle einer Gefahr zusätzlich optische Hilfe liefern. Denkt man bei der Erstellung oder Nachrüstung des Sicherheitskonzepts diese Möglichkeiten im Vorhinein mit, kommt es im Gefahrenfall erst gar nicht zu Barrieren. Das frühzeitige Einbeziehen der Betroffenengruppen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.

Meine Erfahrung nach stellt sich die Situation der Barrierefreiheit in anderen Ländern ganz anders dar. Vor allem in den USA oder Brasilien hat sich die Barrierefreiheit viel positiver entwickelt. Meiner Meinung nach steht Deutschland im direkten Vergleich wie ein Entwicklungsland für die Menschen mit Behinderungen dar.

Schauen wir in die USA, so gibt es dort viele verschiedene Video-Relay-Dienste, der meistgenutzte ist CONVO. Diese ermöglicht es Gehörlosen mit einer App, sofort mit Hörenden zu kommunizieren. Die App bietet sofortigen Zugriff auf Online-Dolmetscher. Die gehörlosen Benutzer (American Sign Language, ASL) können überall und in allen Bereichen des Lebens mit Smartphone, Tablet oder Computer kommunizieren und die Dolmetscher sowohl z.B. für persönliche Gespräche oder Termine, als auch für berufliches nutzen. Sie ist kostenlos. Im Vergleich dazu gibt es in Deutschland nur einen einzigen Video-Relay-Dienst „Tess – Sign & Script – Relay-Dienste für hörgeschädigte Menschen GmbH“. Die Nutzung dieses Dienstes ist jedoch nicht kostenlos. Es bestehen Gesprächsgebühren in Höhe von 0,14 Euro für Schriftsprache und 0,28 Euro pro Minute für Gebärdensprache.

Die Perspektive der tauben Doktorandin an der Universität Göttingen, Ilona Paulus, über die Gebärdensprachgemeinschaft in Brasilien, soll dies hier veranschaulichen:

„[…]Die brasilianische Deaf Community ist derzeit äußerst lebendig, sehr gut vernetzt und ihre Gebärdensprache – die Libras – ist überall anzutreffen, im TV, auf Bildschirmen als Avatare an Flughäfen, in Tourismuszentren, bei politischen Kundgebungen und Debatten und vielen mehr. Und nahezu jede staatliche und private Hochschule/Universität bietet Libras-Kurse an.[…]“